Zum 1. Mai: Sozialer Wandel statt Privilegien!

Auch dieses Jahr musste der 1. Mai zum grossen Teil im Internet stattfinden. In Bülach hat Michèle Dünki-Bättig, SP-Kantonsrätin und Co-Präsidentin des VPOD ZH, die folgende Rede gehalten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen

Die folgenden Zeilen habe ich in einer ersten Version spätabends nach einem langen Homeoffice- Tag in meinen Laptop getippt. Ich habe mich dafür mit aufs Sofa gesetzt. Ein Szenenwechsel, wie man so schön sagt. Und im vollen Wissen darum, dass ich in dieser Corona-Zeit in vielerlei Hinsicht sehr privilegiert bin: ich übe einen Beruf aus, in dem ich von zuhause arbeiten kann. Ich bin so eingerichtet, dass ich tagsüber an einem Arbeitstisch und abends dann eben auf dem Sofa vor mich hin werkeln kann. Ich habe keine Betreuungsaufgaben – zumindest nicht für Kinder. Und ich bin jung und gesund. Klar: auch ich und Menschen wie ich haben schwierige, belastende und fordernde, nicht endende Tage. Wir sitzen täglich stundenlang – oftmals länger als normal und für uns gut – am Bildschirm, mit ständigen Videokonferenzen und abends kommen wir dann nicht mehr runter. Der Ausgleich fehlt, die immer gleichen Spaziergänge bringen keine Entspannung mehr und die Augen werden auch abends nicht mehr rund – sie bleiben viereckig.

Aber im Grossen und Ganzen, bin ich privilegiert. Ja: Ich kann solidarisch sein und zuhause bleiben. Viele können das nicht: sie arbeiten im Service public und stehen tagein, tagaus an der Kasse eines Detaillisten, fahren unsere Trams und Busse mit mal mehr, mal weniger Menschen, entsorgen unseren Abfall oder leisten Notfalldienst bei Feuerwehr und Polizei, oder sie arbeiten im Gesundheitswesen und heilen, pflegen und begleiten uns. Verglichen mit all diesen Menschen bin ich und sind Menschen wie ich privilegiert. Was meine Arbeitssituation betrifft. Was die gesellschaftliche Stellung und die Anerkennung für meine Arbeit betrifft. Und was den Lohn betrifft, welchen ich erhalte. Und was die Arbeitsbedingungen betrifft, unter welchen ich meine Leistung erbringe.

Und all das sage ich nicht, weil ich stolz auf diese Situation oder meinen Status bin. Ganz im Gegenteil: ich bin wütend darüber und finde es ungerecht.

Ich bin überzeugt, dass es so nicht weitergeht, dass wir einen sozialen Wandel brauchen.

Es reicht nicht, wenn wir auf dem Balkon stehen und für das Gesundheitspersonal klatschen. Wenn wir Reinigungsfachleuten aufmunternd zunicken und uns im besten Falle für ihre Arbeit bedanken. Wenn wir die Schichteinteilung im öffentlichen Verkehr dicht und den ständigen Stress, nicht zu spät abzufahren von aussen als «herausfordernd» ansehen.

Es sind Taten gefordert. Und ein Umdenken. Wir müssen handeln. Denn: Wer hat denn entschieden, dass Arbeit am Computer mehr Wert sein soll als Arbeit am Menschen? Das Reinigungsarbeit niedrige Arbeit ist, die wir im Falle der kantonalen Verwaltung auch noch auslagern und so noch mehr prekäre Arbeitsverhältnisse schaffen?

Warum nehmen wir ein System hin, welches mit Fallpauschalen unsere Gesundheit ökonomisiert und mit Privatisierungen einen Wettbewerb mit unserem höchsten Gut schafft? Warum ist es in Ordnung, dass sich Leitende Personen, Spitaldirektoren, Verwaltungsräte und Beteiligte an Kliniken hohe Löhne, Bonuszahlungen und Dividenden auszahlen und sie dafür von der öffentlichen Hand mit Leistungsaufträgen und einem Platz auf der Spitalliste belohnt werden? Warum haben wir eine Gesundheitsdirektion und einen Regierungsrat, die sich ausserstande sehen, gute Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen zu schaffen? Warum soll es – und ich zitiere - «sachfremd und als zu starker Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Spitäler» sein, einen Gesamtarbeitsvertrag als Voraussetzung für einen Platz auf der Spitalliste zu fordern?

Da klatscht die Gesundheitsdirektorin also lieber wieder eine Runde vom Balkon.

Wer findet es heutzutage noch in Ordnung, dass wir im Zuge der Privatisierung unsere Ethanol-Reserven aufgegeben haben – und deshalb zu Beginn der Pandemie zu wenig Desinfektionsmittel hatten? Schluss damit!

Der Öffentlichkeit blieb unser aller Einsatz im Service public nicht verborgen. Noch nie zuvor hat die Gesellschaft so stark wahrgenommen, dass wir Angestellte im Service public gesellschaftsrelevant sind. Und wir bleiben gesellschaftrelevant, auch dann, wenn die Kameras nicht mehr auf uns gerichtet sind und sich die Journalistinnen anderen Themen widmen. Bis zur nächsten Krise. Uns genügt es nicht systemrelevant zu sein, vielmehr müssen wir systemkritisch in Erscheinung treten.

Wir brauchen einen sozialen Wandel. Wir brauchen eine Bewegung, die den Menschen in all seinen Aspekten ins Zentrum von Politik und Wirtschaft stellt. Denn die Wirtschaft und die Politik müssen für die Menschen da sein, und nicht umgekehrt. Wir brauchen einen sozialen Wandel, der für eine gerechte Verteilung der Ressourcen und Lebenschancen sorgt, denn es ist für alle genug da.

Und bis das auch ganz hinten rechts angekommen ist, braucht es eine starke Gewerkschaft, eine starke Bewegung, braucht es dich und uns alle, als Kollektiv aber auch als Einzelpersonen. Es braucht Dich, und Dich und Dich. Danke, dass du dich auch weiterhin für den sozialen Wandel einsetzt – im grossen, wie im kleinen, individuell in deinem Umfeld und gemeinsam mit uns allen in Gesellschaft und Politik.