Eklatante Defizite im Gesundheitswesen

Von: Roland Brunner, VPOD Sekretär Sektion Zürich Kanton

Der dritte nationale Versorgungsbericht zum Gesundheitspersonal setzt den Schwerpunkt auf die Schätzung des Bedarfs an Pflege- und Betreuungspersonal in den nächsten zehn Jahren (2019-2029). Die eklatanten Defizite werden offensichtlich. Und die Forderungen an die Politik sind klar.

Der gut 100seitige dritte nationale Versorgungsbericht des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan hält zwar fest, dass dank intensiver Bemühungen der letzten Jahre der Deckungsgrad des Bedarfs verbessert werden konnte. Aber er konstatiert auch:

"Es besteht auch in Zukunft bei den Pflegefachkräften eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Angebot und dem Bedarf an Nachwuchskräften. Diese Ergebnisse zeigen auf, dass eine Erhöhung der Ausbildungskapazitäten alleine nicht reicht. Weitere Massnahmen beim Berufseinstieg und der Personalerhaltung drängen sich auf."

Der Bericht beziffert den Bedraf an zusätzlichem Pflege- und Betreuungspersonal bis 2029 auf 36'500 Personen (15'900 Pflegefachpersonen der Tertiärstufe, 12'600 Pflege- und Betreuungspersonen der Sekundarstufe II und 8000 Personen ohne formalem Ausbildungsabschluss). Dabei geht man von einer Zunahme des Personalbedarfs von 14% im Spitalbereich, 26% in den Alters- und Pflegeheimen und 19% bei der Spitex aus.

Dazu kommt aber noch der Ersatzbedarf für Angestellte, die in diesem Zeitraum aus dem Beruf ausscheiden (Pensionierung, Berufsausstieg). Das sind von 2019–2029 gemäss Referenzszenario weitere 27'500 Pflegefachpersonen der Tertiärstufe und 14'500 Pflege- und Betreuungspersonen der Sekundarstufe II. Der geschätzte Nachwuchsbedarf an Pflegefachpersonen der Tertiärstufe liegt somit bei 43'400 Personen (15'900 + 27'500). Beim Pflege- und Betreuungspersonal der Sekundarstufe II beläuft sich der geschätzte Bedarf auf 27'100 Personen (12'600 + 14'500).

Wie ist diesem eklatanten Pflegenotstand beizukommen? Der Bericht listet Massnahmen in vier Handlungsfeldern auf: Rekrutierung, Aus- und Weiterbildung, Personalerhalt und Personaleinsatz und hält fest:

Die Massnahmen in den einzelnen Handlungsfeldern entfalten ihre volle Wirkung nur dann, wenn in den anderen Handlungsfeldern ebenfalls entsprechende Anstrengungen unternommen werden. (...) Entscheidend ist, dass die Absolventinnen und Absolventen nach der Ausbildung effektiv in den Arbeitsmarkt einsteigen und als Gesundheitsfachperson darin tätig bleiben.

Für das Handlungsfeld "Personalerhaltung" listet der Bericht Faktoren auf, die für einen Verbleib im oder ein Ausscheiden aus dem Beruf massgebend sind:

  • Die Identifikation mit dem Betrieb und die Wertschätzung und Unterstützung durch die direkten Vorgesetzten;
  • Die Arbeitsorganisation, die Arbeitsbelastung, die Sinnhaftigkeit der konkreten Arbeit;
  • Der betriebliche Umgang mit physischen und emotionalen Belastungen der Mitarbeitenden;
  • Die Betriebskultur im Umgang mit Klientinnen und Klienten und mit den Mitarbeitenden sowie die Teamkultur der Mitarbeitenden untereinander;
  • Die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Freizeit;
  • Die Möglichkeiten zur Personalentwicklung;
  • Die Anstellungsbedingungen wie Lohn, Ferienregelung oder Urlaubsregelungen.

Aus dieser Liste wird offensichtlich, dass die Forderungen, die der VPOD seit langem immer wieder an die Spitäler und an die Politik richtet, notwendige Massnahmen sind, um den Pflegenotstand zu beheben.

Der Bericht benennt auch die Probleme bei der Personalrekrutierung:

Als Regel lässt sich festhalten: Je höher das gesuchte Qualifikationsniveau, desto schwieriger die Rekrutierung. Dies trifft somit besonders auf das hochspezialisierte Fachpersonal zu, etwa auf die Expertinnen und Experten in Intensiv-, Notfall- und Anästhesiepflege, aber auch auf Spezialisierungen in anderen Fachbereichen – beispielsweise Operationsfachpersonal in den Spitälern oder Wundexpertinnen und -experten, die in der Langzeitpflege und in der Spitex gefragt sind.

Und weiter konstatiert der Bericht:

Die angespannte Personalsituation wirkt sich in erster Linie dahingehend aus, dass offene Stellen während längerer Zeit unbesetzt bleiben. Damit erhöht sich die Arbeitsbelastung für das im Einsatz stehende Personal. Zudem greifen die Betriebe zur Stellenbesetzung vermehrt auf Personalvermittler und temporäre Mitarbeitende zurück. Für das bestehende (Führungs-) Personal bedeutet dies einen Zusatzaufwand bei der Einarbeitung und Integration in die bestehenden Teams, jeweils für eine beschränkte Zeit.

Unter den prioritären Massnahmen im Handlungsfeld Personalerhalt hält der Bericht fest:

Ein präsentes Thema ist die physische und psychische Belastung in den Pflege- und Gesund- heitsberufen. Die Covid-19-Pandemie hat das Pflege- und Betreuungspersonal in dieser Hinsicht noch zusätzlich stark belastet. Die hohe Beanspruchung und die unregelmässigen Arbeitszeiten scheinen auch ein Grund dafür zu sein, dass nur wenige Gesundheitsfachpersonen zu einem Beschäftigungsgrad von 100% angestellt sind. Den Führungspersonen kommt eine entscheidende Rolle zu, Anzeichen von Überbelastung bei den Mitarbeitenden zu erkennen und rechtzeitig temporäre Entlastungsmöglichkeiten anzubieten. Die vielfach geforderte Vereinbar- keit von Arbeit, Familie und Freizeit erschöpft sich nicht in einem Kinderbetreuungsangebot, das auf die Arbeitszeiten des Personals abgestimmt ist. Dazu gehört beispielsweise auch, dass die Dienstpläne eingehalten werden und das Personal bei unerwarteten Absenzen nicht kurzfristig einspringen muss.

Wie der VPOD, so konstatiert deshalb auch dieser Bericht:

Politik und Behörden stehen in der Verantwortung, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die es den Betrieben und den weiteren Akteuren erlauben, nicht nur genügend Gesundheitspersonal auszubilden, sondern das Personal dank angemessenen Arbeitsbedingungen auch im Beruf zu erhalten.

Es ist offensichtlich: Applaus vom Balkon reicht da nicht, selbst wenn es die zuständige Regierungsrätin ist, die applaudiert. Handeln und Verantwortung übernehmen sind gefragt und gefordert. Und die finanziellen Mittel, um das Gesundheitswesen der Schweiz und das heute beschäftigte Personal nicht am Pflegenotstand kaputt gehen zu lassen.

Der Obsan Bericht 03/2021 Gesundheitspersonal in der Schweiz – Nationaler Versorgungsbericht 2021 - Bestand, Bedarf, Angebot und Massnahmen zur Personalsicherung hier als PDF