Die im Tages-Anzeiger vom 5. November (nur mit Abo) publizierten "Erkenntnisse zu den Löhnen der Pflegenden" können bestensfalls als plumpe Abstimmungspropaganda gegen die Pflegeinitiative verstanden werden. Was Markus Brotschi und Luca De Carli da veröffentlichen, hat mit der Realität von Pflegefachleuten nichts zu tun.
Die TA-Journalisten nehmen die Forderungen des VPOD auf, die an der Personal- und Protestversammlung am Zürcher Universitätsspital USZ vom 26. Oktober gestellt wurden: "10 Prozent mehr Lohn und eine 36-Stunden-Woche – und das so lange, bis der Mangel an Pflegepersonal in der Schweiz behoben ist", legen sie dem VPOD in den Mund. Korrekt ist: 36 Stundenwoche als wöchentliche Sollarbeitszeit. 110% Lohn, bis genug Personal zur Umsetzung dieser Forderung vorhanden ist. Also nicht beides gleichzeitig, sondern 110% Lohn jetzt - mit dem Ziel einer Senkung der wöchentlichen Sollarbeitszeit auf 36 Stunden. Das scheint uns klar formuliert und nur böswillig misszuverstehen. Zudem haben wir bereits letzten Samstag Stellung genommen zur Frage, ob diese Forderung zu weit geht: "Zu radikal? Oder nur vernünftig."
All das hätten die TA-Journalisten problemlos auf unserer Webseite finden können. Stattdessen operieren sie mit Lohnzahlen, die sie von den Arbeitgebern erhalten haben, dem nationalen Spitalverband H+, der klar und deutlich gegen die Pflegeinitiative politisiert. Verwundert reiben sich Angestellte im Gesundheitswesen die Augen und melden sich bei uns und in den Kommentarspalten des Tages-Anzeiger: Mein Lohn ist weit unter dem, was hier angegeben wird. Kann das stimmen? Auch hier hätten es sich die TA-Journalisten einfach machen können, wenn sie nur gewollt hätten. Auf der Webseite des VPOD finden sich die realen Löhne im Gesundheitswesen - nicht die Fantasielöhne von H+.
Zudem: Für die meisten Angestellten im Gesundheitswesen, vor allem für qualifizierte Pflegefachleute, sind auch diese 100%-Löhne reines Wunschdenken, denn spätestens mit 40 schafft es niemand mehr, ein Vollzeitpensum zu arbeiten bei dem heute herrschenden Druck und Stress, mit ständigen Nachtdiensten, Wochenendschichten und permanenten Anfragen auch an Freitagen und selbst in den Ferien, doch noch kurzfristig einzuspringen. Und die ausgewiesenen Löhne sind ein Durchschnitt, der vor allem von Neueinsteiger*innen bei einem Stellenwechsel in die Höhe getrieben wird. Infolge des Fachkräftemangels können sie heute mehr erhalten, wenn sie bei den Bewerbungsgesprächen gut verhandeln - was nicht unbedingt eine Kernkompetenz von Pflegefachleuten ist, die eher für ihre Patient*innen als für sich selber einstehen. Dafür sind aber die Löhne der treuen, meisten schon jahrelang im gleichen Spital beschäftigten stehengeblieben. Lohnerhöhungen gehören für sie seit vielen Jahren ins Reich der Märchen.
Dass die Tages-Anzeiger-Journalisten zwar über den VPOD schreiben, aber nicht mit ihm geredet haben, passt in dieses Bild. Es gehört zum journalistischen Handwerk, den VPOD zu kontaktieren und ihn zu seinen Aussagen oder den Aussagen der Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. Aber dann hätte man wohl nicht so billig und falsch über die Forderungen herziehen können. Ziel war hier wohl, möglichst viele Klicks zu generieren, und nicht ein kompetenter, professioneller Journalismus. Schade. Der Pflegeinitiative und ihrem Erfolg wird das aber genauso wenig im Wege stehen wie den mehr als berechtigten Forderungen des Gesundheitspersonals.