Gewalt im Gesundheitswesen (Update)

Von: Roland Brunner, VPOD-Sekretär Sektion ZH Kanton

Immer wieder werden Angestellte im Gesundheitswesen beschimpft, belästigt oder gar tätlich angegangen. Aber wie gross ist das Problem wirklich? Und wieso hört man nichts davon?

Ende September haben wir eine kleine Umfrage lanciert, um mehr über das Problem der Gewalt im Gesundheitswesen zu erfahren. Insgesamt haben nur 57 Personen teilgenommen. Die Umfrage kann also keinerlei Anspruch erheben, repräsentativ zu sein. Auch die Interpretation ist damit schwierig: Ist das Problem so klein, dass nur so wenige teilgenommen haben? Oder ist es so verbreitet und wird so verschwiegen, dass man nicht einmal an einer Umfrage teilnimmt? Am wahrscheinlichsten: Die Angestellten im Gesundheitswesen sind häufig mit Gewalt konfrontiert, haben aber im Moment so alle Hände voll zu tun, den Berufsalltag zu überstehen, dass das hintenanstehen muss.

49% der eingegangenen Antworten kamen aus einem Spital, 26% aus einer psychiatrischen Klinik und 9% aus einem Alters- und Pflegeheim (Rest übrige wie Spitex usw.). Dabei arbeiten 86% der Antwortenden am Bett, also direkt mit Patient:innen / Bewohner:innen und ihren Angehörigen. Angesichts des kleinen Samples habe ich darauf verzichtet, die Aussagen mit Kreuztabellen weiter zuzuordnen und bereichsspezifisch zu analysieren. Die Aussagen derjenigen, die teilgenommen haben, sind dennoch mehr als deutlich. Hier die Rückmeldungen, die wir durch die Umfrage erhalten haben:

  • 84% geben an, sowohl physische als auch psychische Gewalt selber schon erlebt zu haben. Weitere 14% haben physische Übergriffe erlebt (Beschimpfungen, Bedrohungen).
  • 77% sagen aus, solche Übergriffe seien häufig (jeden Monat oder sogar wöchentlich). Weitere 20% geben an, sie seien selten (zwei-, dreimal pro Jahr), wobei vor allem Teilzeit-Angestellten von weniger Gewalterfahrung berichten, da sie ja auch weniger präsent sind.
  • 63% geben an, die Übergriffe seien seit Covid-19 nicht häuiger geworden, wogegen 37% feststellen, dass solche Übergriffe zugenommen haben.
  • 75% sagen aus, die Übergriffe hätten sich nicht verändert, während 25% festhalten, sie seien schlimmer/heftiger geworden.
  • 51% halten fest, Übergriffe würden bei ihnen im Betrieb ignoriert/verdrängt. Nur 49% sagen, sie würden bei ihnen ernst genommen und bearbeitet.
  • 44% sagen aus, Gewaltsituationen würden bei ihnen immer gemeldet. Bei 49% erfolgt selten eine Meldung und 7% sagen, es habe nie eine Meldung gegeben.
  • 61% fühlen sich bei Gewaltsituationen vom Team unterstützt. 19% fühlen sich auch von der Leitung unterstützt, während sich andere 19% alleingelassen fühlen.
  • 30% berichten, bei ihnen gebe es regelmässig Kurse und Angebote zum Umgang mit Gewalt. 42% sagen, solche Kurse seien bei ihnen selten und bei 20% gibt es nie solche Kurse.
  • 19% halten fest, der Arbeitgeber ergreife regelmässig Massnahmen bei Gewaltvorfällen. Bei 61% ist dies selten der Fall und bei weiteren 19% werden nie Massnahmen ergriffen.

Und nun? Die kleine Zahl von Rückmeldungen lässt keine Schlüsse zu, wie verbreitet das Problem der Gewalt im Gesundheitswesen wirklich ist. Die eingegangenen Rückmeldungen zeigen aber, dass es existiert, ernst genommen werden muss und bisher zuwenig Aufmerksamkeit erhält - auch und vor allem von Seiten der Arbeitgebenden, die im Rahmen des Gesundheitsschutzes für die Gesundheit ihrer Angestellten verantwortlich sind, z.B. mit Schutz- und Präventionsprogrammen. Es bleibt also sowohl in der Forschung als auch in der Begleitung und Unterstützung der Angestellten noch viel zu tun, um der Gewalt im Gesundheitswesen Einhalt zu gebieten und das Personal zu schützen.


Update:

Wenige Tage nach Veröffentlichung unserer Resultate berichtet heute Dienstag der Blick unter dem Titel «Schockierende Untersuchung: Fast jede dritte Pflegefachperson wird Opfer von Gewalt» über eine grössere Studie, die sich allerdings auf die Psychiatrie beschränkt. Das Forschungsteam um Michael Simon, Pflegewissenschaftler und Professor an der Universität Basel, kommt zum gleichen Resultat wie die kleine VPOD-Umfrage: 73 Prozent der 1128 Pflegefachpersonen berichteten über verbale Gewalt, 63 Prozent über Gewalt an Sachen, 40 Prozent über verbale sexuelle Gewalt, 28 Prozent über körperliche Gewalt und 14 Prozent über körperliche sexuelle Gewalt. Zudem waren fast 30 Prozent im Laufe ihres Berufslebens bereits Opfer eines schweren Angriffs. Und auch die Basler Forschenden halten fest: Die etablierten Schutzstrategien auf den Psychiatrie-Stationen wie Aggressions-management-Trainings oder Alarmvorrichtungen haben offenbar nur eine begrenzte Wirksamkeit, um Patientengewalt gegenüber Pflegenden zu begrenzen. Sie fordern deshalb wie der VPOD politische und pädagogische Strategien, um wirksame Präventions- und Interventionsstrategien zur Gewalt-vermeidung zu entwickeln.
Veröffentlicht wurde die Forschung in der Fachzeitschrift «International Journal of Mental Health Nursing».


Hier einige Vorschläge von Teilnehmenden an unserer VPOD-Umfrage, was zu tun wäre zur Bekämpfung der Gewalt im Gesundheitswesen:

  • Konsequenteres Handeln bei Gewalt (z.B. jemanden eher entlassen)
  • Ich wünsche mir, dass der ärztliche Dienst die Äusserungen der Pflege ernst nimmt und uns schützt. Z.B. mit adäquater medikamentöser Behandlung und/oder Beizug eines Psychiaters. Ich verlange, dass nicht mehr so häufig weggeschaut wird.
  • Dass der Vorgesetzte eingreift. Oder zumindest eine höherrangige Person. Oft sind es Beschwerden, da wäre es gut wenn jemand vom Qualitätsmanagement jederzeit erreichbar wäre und sich auf der Station damit befassen könnte. Uns Pflegekräften fehlt einfach oft die Zeit zuzuhören und das geforderte Verständnis entgegenzubringen.
  • Aggressionsmeldungen (es gibt ein entsprechendes Formular) und CIRS-Fälle werden “bearbeitet" und man arbeitet an einer Weisung dazu. Es wird bearbeitet und geredet und nochmal besprochen, statt gehandelt, wie das so oft der Fall ist. Ich habe noch nie eine positive bzw. angemessene Reaktion auf eine von mir eingereichte Aggressionsmeldung erhalten. Erst durch nachbohren, hiess es man arbeite daran.
  • Securitas ist eine gute Sache, den Luxus hat aber wahrscheinlich nicht jedes Spital zu jeder Zeit. Im Nachtdienst schätze ich es besonders.
  • Ich habe aus persönlichem Interesse einen Deeskalationskurse besucht, unabhängig von meinem Arbeitgeber und fände es sinnvoll wenn mein Arbeitgeber es genauso anbietet wie z.B. die regulären Kurse (BLS, Kurzweiterbildungen).
  • Mehr Schutz durch den Arbeitgeber. Mitarbeiter sollten erste Priorität haben, nicht das Geld das durch volle Betten eingenommen wird
  • Deeskalationstraining
  • Mehr Personal, Securitydienst, Gefahrenzulage
  • eine schnelle Eingreiftruppe, die uns neutral aber helfend zur Seite stehen kann
  • Eine klare Nulltoleranz-Haltung der Leitung gegenüber dem Patienten und dass gegebenenfalls auch Konsequenzen gezogen werden (Anzeigen, Klinikverbot etc). Dies gibt es ab und zu, meiner Meinung nach aber zu selten.
  • Konsequenzen für Gewaltverursacher
  • Mehr Respekt im Umgang
  • Eine anonyme Möglichkeit für Meldung und folgende Konsequenzen. UNTERSTÜTZTE Anzeige, Klinik-, Stationsverbot, uä.
  • Offenheit, mehr Unterstützung vom Arbeitgeber
  • Offenheit, Aufklärung, Schulungen zu Gewalt in der Pflege
  • Umfassende Schulungen mit regelmässigen Refreshern für ALLE durch erfahrene Aggressionsmanager*innen. Präventive Massnahmen in den Institutionen (ja, dafür muss man auch Geld ausgeben liebe Chefs…). Handlungsanweisungen wie vorzugehen ist bei Übergriffen (wo/wie kann ich Anzeige machen, bei wem kann ich mit für psychologische Unterstützung melden etc). Klare Statements dass Gewalt nicht toleriert wird, Konsequenzen aufzeigen.
  • Der Austausch muss reger werden und das Aufzeigen von Grenzen klarer.
  • Das eine Nulltoleranz herrscht, das der Betrieb sich auch für einen friedlichen Umgang einsetzt und auch Patienten oder Angehörige vom Betrieb angezeigt werden und dies nicht als Privatperson geschehen muss. Dass die Leitungsebenen vermehrt involviert werden und auch klar Stellung beziehen. Ich wünsche mir ein klares Nein zu Gewalt.
  • Problem ernst nehmen und es publik machen
  • Körperliche Übergriffe sollten konsequent analysiert werden. Es sollte Massnahmen ergriffen werden, damit ein Übergriff nicht mehr vorkommt. Denn oft sind die Übergriffe ähnlich wie frühere Übergriffe durch denselben Patienten und könnten durch angemessene Massnahmen verhindert werden. Das Aggressionsmanagement müsste von obsterster Stelle gesteuert werden, so dass keine Fälle unter den Tisch gekehrt werden könnten.
  • Ein Security fix auf dem Notfall
  • Anerkennung, dass Gewalt vorkommen kann, Hintergrundwissen zur Entstehung und Dynamik von Gewalterfahrungen
  • Das die Sorgfaltspflicht von den Vorgesetzten gegenüber dem Personal an erster Stelle steht
  • Psychische und physische Gewalt gehört in der Psychiatrie leider zum Alltag. Viele Eintritte kommen per FU in Polizeibegleitung. Auch während einem Aufenthalt kommt es immer wieder zu Aggressionen und teilweise schweren Verletzungen. Ärzte mit Fachwissen und Selbstvertrauen können dabei sehr nützlich sein.
  • Viele haben Angst etwas falsch zu machen und sich am nächsten Tag beim Oberarzt dafür rechtfertigen zu müssen... Zusammenarbeit Arzt und Pflege ist ein wichtiges Thema. Erfahrungen zeigen, dass es sehr oft super funktioniert. Einige wenige sind Alleinkämpfer ohne Plan und Kommunikation. Das sind häufig Situationen, die eskalieren.
  • Personalmangel, welcher durch externe Firmen abgedeckt wird, ist ein wichtiges Thema. Externe kennen oft weder die Örtlichkeit, Patienten oder Strukturen der Station, um bei einem Notfall adäquat reagieren zu können..
  • Medikamente spielen eine wesentliche Rolle. Richtiges Medikament.. Dosis und die garantierte Abgabe.
  • Regelmässige und realistische Dokumentation und Übergabe an Ärzte von Aggressionsereignissen ist wichtig. Gefährliche Situationen am Wochenende werden am Montag früh beim Arztrapport oft wieder verharmlost übergeben. Situationen werden dann oft bagatellisiert und nicht ernst genommen.
  • Sicherheitsperson 24 Std anwesend
  • Eigenständige Handlungskompetenzen inkl. Medikamente
  • Sensibilisierung des Themas, offener Umgang. Keine Bagatellisierung bei Vorfällen.
  • Abbruch der Leistungen
  • Bessere Verteilung von dilirantes Patienten - zB mehr Personal im Nachtdienst oder freie Betten auf der IMC, damit man nicht allein gelassen wird mit aggressiven Patienten
  • Gefahrenzulagen, Eingreiffen sofort mit Massnahmen mehrerer Personen
  • Dass eine Übereinkunft besteht, dass man als Patient/Bewohner die eine Dienstleistung in Anspruch nimmt auch eine Verantwortung hat im Dienstleistungsprozess mitzuwirken, kooperieren und wenn dies nicht eingehalten wird (und die Person ist absprachesfähig) durchgesetzt wird, sonst Abbruch der Beziehungen. Begleitet ebenfalls von mehr sozial-psychiatrische Hilfe auch bei somatische Dienstleistungen.
  • Meldeplattform, schnellere Hilfe durch Polizei (bei phys. Gewalt)
  • Dementengerechtes Wohnen
  • Mehr Zeit für den Patienten, Deeskalation ermöglichen
  • Mehr Unterstützung, sei es den Bewohner zur Medikamenteneinstellung in die Psychiatrie einzuweisen oder sogar in ein besser geeignetes Umfeld zu verlegen.
  • Weiterbildung zum Thema Gewalt UND sexuelle Übergriffe
  • Mehr Rechte und die Möglichkeit Anzeige zu erstatten, Sensibilisierung, eine Anlaufstelle im Spital
  • Konkretes einfach Vorgehen zum Melden
  • Gewaltereignisse werden in der Pflege normalisiert. Dies finde ich sehr stossend und wünschte mir, dass Gewalt nicht als etwas betrachtet wird, dass zum Pflegejob dazugehört. Gewaltereignisse sollen ernst genommen werden.