Pflegeinitiative - der Tag danach

Von: Roland Brunner, VPOD-Sekretär Sektion ZH Kanton

Der massive Erfolg und die breite Zustimmung zur Pflegeinitiative haben auch in den Medien hohe Wellen geschlagen. Ob der Tsunami bei der Politik ankommt, wird sich zeigen.

Schon am Tag der Abstimmung haben wir klar gesagt: Das JA kann nur ein Anfang sein. Eine nationale Initiative ist immer eine Verfassungsänderung, die von Bundesrat und Parlament erst in eine Gesetzgebung umgesetzt werden muss, die dann wieder dem (fakultativen) Referendum untersteht. Insofern ist die Kritik einiger der Gegner:innen der Pflegeinitiative berechtigt, auch wenn es ihnen in Wirklichkeit nie um diese Umsetzung ging, sondern sie in Wirklichkeit grundsätzlich gegen die Vorlage kämpften.

Die Zeitungen berichten heute ausgiebig über die Abstimmung und das Resultat.

Die NZZ, die bereits wieder jammert, was das denn allles kosten werde, veröffentlichte schon am Sonntag Nachmittag einen Kommentar von Simon Hehli mit der Überschrift: "Ohne kluge Umsetzung ist dieses Ja zur Pflegeinitiative nicht mehr wert als Applaus auf dem Balkon.". Einleitend heisst es da:

Das klare Ja zur Pflegeinitiative ist ein Zeichen der Wertschätzung für einen Berufsstand, der nicht nur während der Pandemie Herausragendes leistet. Doch die grosse Herausforderung kommt erst noch.

Weiter geht es in der NZZ jedoch gleich mit einer Verunglimpfung der Pflegeinitiative:

Es ist der perfekte Polit-Cocktail: Man nehme eine überaus populäre Berufsgruppe, die seit Jahren – und oftmals zu Recht – über ihre schwierigen Arbeitsbedingungen klagt. Man nehme ein paar Verfassungsartikel, die eine Lösung versprechen. Und man nehme eine fundamentale Krise des Gesundheitssystems, in dem die Probleme der Pflege nochmals eine deutlich erhöhte Aufmerksamkeit erhalten.

Dass die Pflegeinitiative schon lange vor dieser Pandemie lanciert und gesammelt wurde - und dass dann bereits massiver Fachkräftemangel und Personalnotstand im Gesundheitswesen herrschten, interessiert die NZZ nicht. Aber nicht nur die Initiative wird verunglimpft, auch die grosse Mehrheit der Abstimmenden wird in der NZZ für dumm verkauft:

Es ist davon auszugehen, dass sich nicht allzu viele Bürger mit den doch eher technischen Details der Initiative und des indirekten Gegenvorschlags auseinandergesetzt haben. Das Ja kommt eher aus dem Bauch als aus dem Kopf.

Als Weg vorwärts verweist Simon Hehli dann auf die Sozialpartnerschaft:

Neu soll der Bund festlegen, wie hoch die Abgeltungen für die Pflegeleistungen sein und wie die Arbeitsbedingungen – inklusive Löhne – für die Pflegenden aussehen sollen. Das ist ein unnötiger Eingriff in das funktionierende System der Sozialpartnerschaft, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer miteinander die Anstellungsbedingungen aushandeln.

Tatsache ist, dass diese Sozialpartnerschaft mehr schlecht als recht funktioniert, wo sie denn überhaupt existiert. Im Kanton Zürich beispielsweise gibt es im Gesundheitswesen keinen einzigen Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Spitäler, Heime, Spitexdienste, aber auch die bürgerliche Mehrheit im Kantonsrat verweigern diese mit Händen und Füssen und ideologisch aufgeladen bis an die Zähne bewaffnet - zuletzt bei der Revision des Spitalplanungs- und finanzierungsgesetzes SPFG, als ein entsprechender Vorschlag der SP hochaus abgeschmettert wurde. Während in anderen Kantonen solche Gesamtarbeitsverträge Normalität sind, ist das Zürcher Bürgertum offensichtlich immer noch der Meinung, ein GAV sei der Anfang vom Untergang oder der direkte Weg in den Kommunismus.

Und auch die Gesundheitsdirektion, die sich regelmässig mit Spitaldirektoren und anderen Arbeitgebern im Gesundheitswesen trifft, verweigert die Sozialpartnerschaft, indem sie die Organisationen der Arbeitnehmenden - inklusive der vom Kanton anerkannten Sozialpartner wie den VPOD - schlicht und einfach ignoriert. Deshalb haben wir gestern gemeinsam mit der SP in einer Medienmitteilung von der Gesundheitsdirektion gefordert, sie müsse zur Umsetzung der Pflegeinitiative mit den als Sozialpartner anerkannten Arbeitnehmenden-Organisationen und der Arbeitgeberseite einen regelmässigen Sozialdialog installieren und auf gute kantonale Anstellungsbedingungen und sozialpartnerschaftliche Gesamtarbeitsverträge hinzuwirken. Das Geleier in der NZZ hilft da wenig. Hehli schliesst seinen Kommentar halbwegs nach vorne gerichtet mit einem Aufruf zur Verzögerungspolitik:

Doch das heisst nicht, dass das Parlament nun Obstruktion betreiben darf – dazu ist das Verdikt des Volkes allzu deutlich. Klar ist auch, dass nur verbesserte Arbeitsbedingungen die enorm hohe Ausstiegsquote in der Pflege senken können. Der frühere SVP-Nationalrat Rudolf Joder und der Staatsrechtsprofessor Andreas Kley von der Universität Zürich haben bereits detaillierte Vorschläge für entsprechende Gesetzesanpassungen vorgelegt. Auf diesen sollte die Legislative nun aufbauen. Einen pragmatischen Vorschlag hat auch der frühere Preisüberwacher Rudolf Strahm ins Spiel gebracht: Das Parlament könnte die Umsetzung in zwei Etappen angehen und in wenigen Monaten die – weitgehend unbestrittene – Ausbildungsoffensive durchberaten. Zäher dürften die Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen werden, zumal die bürgerliche Mehrheit verständlicherweise wenig Gefallen an der gewerkschaftlichen Wunschliste der Initiative findet. Es wäre sinnvoll, diesen zweiten Teil zu einem späteren Zeitpunkt und in aller Sorgfalt anzugehen. Nur so wird die Pflegeinitiative ihr Ziel erreichen: Zehntausende neue Pflegefachkräfte in den Beruf zu bringen, ohne die in den nächsten Jahrzehnten ein schmerzhafter Mangel droht.

Der Tages-Anzeiger widmet sich ganz der Abstimmung über die Covid-Vorlage. Die Pflegeinitiative muss man da erst einmal suchen gehen. Im Abstimmungsticker steht zwar als Titel "Pflegende erringen historischen Sieg", aber dann folgt unter dem Titel "Jetzt wartet eine heikle Aufgabe auf Berset" gleich der Kater mit lauter Hin und Her, Vielleicht und Aber. Auch der Kommentar von Mario Stäuble unter dem Titel "Ein kurzer Triumph der Vernunft", in dem es mehr um die Covid-Vorlage als um die Pflegeinitiative geht, bietet nicht viel mehr:

Es ist unmöglich, das eindrückliche Ja nicht im Kontext der Pandemie zu lesen. Covid-19 hat den Schweizerinnen und Schweizern in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege – die in erster Linie von Frauen geleistet wird! – heute zu schlecht sind. Der Text der Pflegeinitiative ist allerdings derart allgemein gehalten, dass völlig ungewiss ist, wie sich das Ja dieses Sonntags einst auf den Alltag oder das Lohnkonto einer Pflegerin, eines Pflegers auswirken wird. Der hohe Ja-Anteil ist aber ein unmissverständliches Zeichen ans Parlament, nun rasch ein Paket zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu beschliessen.

Auf Watson kommentiert Peter Blunschi unter dem Titel "Eine Milliarde für Berufsaussteiger? Besser für mehr Lohn!" den Ausgang der Abstimmung.

Es braucht einiges, damit eine Volksinitiative angenommen wird. Sie muss einen klaren Missstand oder ein starkes Unbehagen in der Bevölkerung aufgreifen. Bei der Pflegeinitiative war beides der Fall. Der Arbeitsdruck in der Pflege war schon vor Corona enorm. Die schwerste Gesundheitskrise in der jüngeren Geschichte hat ihn verschärft. (...) Man kann und soll mehr Leute ausbilden, auch weil die ethisch heikle Rekrutierung im Ausland schwieriger wird. Man muss sie aber im Beruf halten. Dafür braucht es bessere Arbeitsbedingungen, das haben die Initiantinnen betont. Zu viel Stress, schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie und ungenügende Löhne laugen das Personal aus. (...) Die Politik aber kann das Signal dieses Volksentscheids nicht ignorieren. Sie muss generell mehr Geld für die Pflege locker machen, nicht nur in der Ausbildung. (...) Dabei hat der Bund direkt wenig Einfluss. Er betreibt keine Spitäler, Heime oder Spitex-Dienste. Gefordert sind in erster Linie die Kantone und die Sozialpartner. Auch ist darauf zu achten, dass eine Lösung möglichst nicht auf die Krankenkassenprämien durchschlägt. Es wird deshalb nicht ohne zusätzliches Steuergeld gehen.

In der WochenZeitung WoZ schreibt Adrian Rickli unter dem Titel "Historischer Sieg, mühsame Umsetzung" von den etlichen Hürden, die zu bewältigen seien, bis sich die Situation des Pflegepersonals wirklich verbessere:

Ebenso schon jetzt lässt sich sagen, dass dieses Ja ohne weitere gewerkschaftliche und politische Kämpfe die Situation in Spitälern, Heimen und in der Spitex in den nächsten Jahren kaum verbessern wird. (...) Fraglich bleibt, wie die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen innerhalb der nötigen Frist erfüllt werden kann. Die Verfassung lässt es nicht zu, auf eidgenössischer Ebene verbindliche Vorgaben zu Arbeitsbedingungen zu machen. Dafür sind die Kantone zuständig.

Seine Schlussfolgerung, der wir uns als VPOD nur anschliessen können und die seit Jahren unsere Devise ist:

In den nächsten Jahren wird es deshalb auch darum gehen, die vor zehn Jahren von bürgerlicher Seite durchgesetzte neue Spitalfinanzierung, den unsinnigen Wettbewerb und die Privatisierungstendenzen rückgängig zu machen. Das Gesundheitswesen muss so weit wie möglich eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit sein. So können auch die Anstellungsbedingungen in der Pflege attraktiver gemacht werden.