Herr Schläfli, wie sind Sie zum Thema Umkleidezeit für Ihre Masterarbeit gekommen?
Ich habe während dem Gymnasium bei einer Restaurantkette gearbeitet und später während dem Studium bei einem Detailhändler. In beiden Unternehmen wurde das Thema «Umkleiden» immer wieder unter der Mitarbeitenden diskutiert, da man für das Wechseln der Kleidung weder eine Zeitgutschrift noch eine finanzielle Entschädigung erhielt. Das hat mich damals gestört.
Während dem Studium begann ich mich für das Arbeitsrecht zu interessieren und wusste, dass ich meine Masterarbeit in diesem Bereich schreiben möchte. Als ich dazu meinen späteren Betreuer, Prof. Dr. Roland Müller, kontaktierte, schlug er mir mehrere mögliche Themen vor. Eines davon war «Umkleidezeit nach schweizerischem Arbeitsrecht». Das hat mich sofort angesprochen und nach einer kurzen, ersten Recherche habe ich mit Verwunderung festgestellt, wie wenig Rechtsprechung und Literatur es dazu gibt. Dieser Umstand, gepaart mit meiner persönlichen Erfahrung, hat den Ausschlag für die Themenwahl gegeben.
Gab es bei Ihrer Recherche oder den Interviews Moment und Erkenntnisse, die für Sie besonders erstaunlich waren oder erwähnenswert sind?
Da kommen mir spontan deren zwei in den Sinn:
Zu Beginn meiner Recherche habe ich einen Tag in der Bibliothek verbracht und habe versucht, möglichst viel Literatur und Rechtsprechung zusammenzutragen. Relativ schnell fand ich nichts mehr Neues. Die meisten Standardwerke äussern sich fast gar nicht zu diesem Thema und die Autoren, welche sich intensiver mit den zusammenhängenden Fragen auseinandergesetzt haben, lassen sich an einer Hand abzählen. Das gleiche Bild ergab sich bei der Urteilsrecherche. Dies hat mich sehr erstaunt.
Das zweite Mal erstaunt war ich, als ich nach Interviewpartner gesucht habe. Weniger als die Hälfte der angefragten Unternehmen – und keines ausserhalb des Gesundheits- und Sozialwesens – war zu einem Gespräch bereit. Manche haben terminliche Gründe angegeben, aber die meisten wollten sich zu dieser Thematik explizit nicht in der Öffentlichkeit äussern. Diese Haltung kann wahrscheinlich zumindest teilweise erklärt werden, wenn man sich anschaut, wie weit die Resultate der quantitativen Untersuchung unter Angestellten von meinen Ergebnissen im theoretischen Teil abweichen.
Die rechtliche Lage scheint gemäss Ihrer Arbeit sehr klar und materiell kaum umstritten zu sein. Weshalb geht es trotzdem kaum vorwärts?
Meines Erachtens sind dafür drei Punkte von Relevanz:
Zuerst hat das Thema Entschädigung der Umkleidezeit lange keine grosse Rolle gespielt. Weder bei den Unternehmen noch bei den Angestellten bzw. Gewerkschaften. Darum hat sich auch die Politik und die Verwaltung nicht damit beschäftigt und die Gerichte mussten keine Urteile fällen.
Zudem wurden die Fragen, wann die Umkleidezeit zur Arbeitszeit zu zählen ist und welche Entschädigungsfolgen dies nach sich zieht, oder welchen Einfluss die Art der Kleidung, also ob es sich um Schutzkleidung oder «normale» Berufskleidung handelt, gar nie umfassend aufgearbeitet.
Schliesslich muss man auch sehen, welche finanziellen und organisatorischen Auswirkungen die flächendeckende Erfassung und Erstattung der Umkleidezeit hätte. Laut der Auswertung meiner quantitativen Studie – welche aber nicht repräsentativ ist – benötigen die teilnehmenden Personen pro Umziehvorgang durchschnittlich knapp 5 Minuten (im Gesundheitswesen etwa 5.5 Minuten). Dies sind mindestens 10 Minuten pro Tag – notabene ohne die Wegzeit von der Umkleidekabine zum Arbeitsplatz, welche auch zur Arbeitszeit zu zählen wäre. Wenn sich die Angestellten auch noch für die Mittagspause umziehen müssen, verdoppelt sich die Zeit entsprechend. Wenn man dies nun hochrechnet und Wegzeiten hinzuzählt, kommt man schnell auf über 5% des Arbeitspensums. Wenn man nun diese Zeit vollständig erfasst und entschädigt, müssten bedeutend mehr Mitarbeitende eingestellt werden. Dies ist insbesondere in einem schwierigen Arbeitsmarktumfeld wie dem Gesundheitswesen eine grosse Herausforderung.
Was würden Sie Unternehmen empfehlen, die bisher die Umkleidezeit nicht erfasst und erstattet haben? Was können Angestellte solcher Unternehmen tun?
Den Unternehmen muss bewusst sein, dass es ein erhebliches Risiko darstellt abzuwarten und erst auf mögliche Klagen ihrer Mitarbeitenden zu reagieren. Sobald sich die Rechtsprechung klar positioniert hat und die Kriterien für die Erfassung und Entschädigung ausgearbeitet sind, ist anzunehmen, dass solche Klagen stark zunehmen werden, da sie mit deutlich weniger Aufwand und Risiko verbunden sein werden als heute.
Darum denke ich, dass es für sie sinnvoll wäre, jetzt aktiv zu werden und das Gespräch mit ihren Arbeitnehmenden bzw. deren Vertretern zu suchen. Die bisherigen Urteile weisen darauf hin, dass die Umkleidezeit im vollen Masse zu erfassen und mit dem normalen Lohn zu entschädigen ist, wenn sich Mitarbeitende im Betrieb umziehen müssen. Dies müsste aber nicht zwingend so gehandhabt werden. Es ist durchaus möglich, die Zeit für das Umkleiden und den Weg zum Arbeitsplatz mit einem separaten (z.B. unternehmensweit einheitlichen) Stundenansatz zu Vergüten. Auch Pauschalentschädigungen sind grundsätzlich denkbar. Und auch bei der anfallenden Mehrarbeitszeit besteht ein gewisser Handlungsspielraum, z.B. über einen teilweisen Ausgleich mit der höheren wöchentlichen Sollarbeitszeit oder entschädigten Pausen. Solche Vertragsausgestaltungen sind aber nur möglich, solange man sich noch nicht in einem Gerichtsprozess befindet.
Angestellte können ihre Arbeitgebenden auf diesen Umstand hinweisen und gemeinsame Verhandlungen anregen.
Sie haben für Ihre Masterarbeit eine Bestnote 6 erhalten. Herzlichen Glückwunsch dazu. Wie geht es nun weiter?
Herzlichen Dank für die Glückwünsche. Ich hatte die hervorragende Möglichkeit, meine Masterarbeit in der Schriftenreihe Recht in privaten und öffentlichen Unternehmen, kurz RiU – LfE (Band 50), des DIKE Verlages zu publizieren. Das Buch ist soeben erschienen, was mich sehr freut. Dazu möchte ich meinem Betreuer, Prof. Dr. Roland Müller, herzlich danken, der dies ermöglicht hat.
Zudem habe ich am 1. April die Anwaltsausbildung mit einem Praktikum beim Regionalgericht Bern-Mittelland begonnen.
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Ihr Praktikum und den weiteren beruflichen Weg.
Dominique Yves Schläfli: Umkleidezeiten nach schweizerischem Arbeitsrecht. Masterarbeit an der Universität Bern, 2022. Information und Bestellung hier.