Tagebuch 4: Arbeitsalltag im Rettungsdienst

Nennen wir ihn Alenico Babić. Er arbeitet als dipl. RettungssanitäterHF bei einem Rettungsdienst im Raum Zürich - und will seinen Namen lieber nicht hergeben. Einen Arbeitsalltag beschreibt er trotzdem.

Um 06:30 ist Dienstbeginn. Meine heutige Dienstpartnerin ist eine Studierende dipl. Rettungssanitäterin HF im 1. Ausbildungsjahr. Sie hat bereits vor Dienstbeginn mit der Fahrzeugkontrolle begonnen. Wir melden uns sogleich bei der kantonalen Einsatzzentrale an. Unser Fahrzeug ist intakt und wurde vom vorherigen Team ordnungsgemäss übergeben. Im Tagesverlauf müssen wir eine der Sauerstoffflaschen auswechseln und das Fahrzeug tanken. Die Studierende teilt mir ihre Tagesziele mit und wir trinken gemeinsam einen Kaffee, bevor um 07:05 Uhr der Rapport ansteht. Hier erfahren wir wichtiges zum Tagesablauf. Der Zivildienstleistende ist heute krank, also übernehmen wir einige seiner Aufgaben. Die Hülle eines CO-Messgerätes ist defekt und muss in die Näherei gebracht werden. Zudem klemmt eine Schranktüre. Da müssen wir eine Reparaturmeldung erfassen. Nachmittags müssen die bestellten Medikamente und die medizinischen Materialien kontrolliert und einsortiert werden. Meine Teampartnerin fängt bereits mit der Monatskontrolle und der Reinigung unserer verschiedenen Arbeitsrucksäcke an. Ich muss nochmals kurz zurück in die Garderobe und gerate in ein ernstes Gespräch zwischen Kolleginnen. Zurzeit leisten einige von uns viele Überstunden. Es herrscht grosse Unzufriedenheit mit der Dienstplanung. Unsere Dienste dauern 11.5-12.5 Stunden. Immer wieder gibt es dann noch Überzeit bei Einsätzen, welche wir kurz vor Dienstschluss entgegennehmen müssen. Oft werden nun 5 Arbeitstage aneinander geleistet. Das gibt Ende Woche Stundensaldos von 60-70h. Zudem dauert die Erholungsphase länger und die Freizeitgestaltung gestaltet sich schwierig. Viele meiner Kolleg*innen denken über eine berufliche Neuorientierung oder eine Kündigung nach. Das Gespräch stimmt mich traurig.

Zurück im Retablierungsraum übernehme ich den Praktikanten der freiwilligen Feuerwehr und zeige ihm die wichtigsten Funktionen des Fahrzeuges. Ich instruiere ihn, wie er sich auf dem Einsatz verhalten soll. Da klingelt unser Pager:

07:54 Einsatz mit Sondersignal und Wechselklanghorn, Rückenschmerzen nicht traumatisch.
In wenigen Minuten haben wir den Einsatzort erreicht. Drei junge Damen haben eine weibliche Person am Boden liegend vorgefunden. Sie klagt über Rückenschmerzen. Mit Unterstützung kann die Patientin in unseren Rettungswagen einsteigen und wir können sie untersuchen. Es stellt sich heraus, dass sie bekannte psychische Probleme hat. Nach Rücksprache mit ihr und ihrem Hausarzt entscheiden wir uns, die Patientin nach Hause zu begleiten. Eine Hospitalisation ist aktuell nicht angezeigt. Damit wir sofort wieder einsatzbereit sind, reinigen wir noch vor Ort das Fahrzeug. Auf dem Rückweg zur Wache stelle ich das Protokoll fertig.

Zurück auf der Wache. Die anderen Teams konnten zwischenzeitlich einige der Tagesarbeiten erledigen. Wir prüfen unsere E-Mails und erledigen bereichsspezifische Aufgaben (jede*r Mitarbeiter*in ist einem Bereich zugeordnet: Technik, Bildung, Einsatz… und hat diesbezüglich verschiedenste Tätigkeiten zu erledigen wie z.B. das Planen einer Weiterbildung, abarbeiten von Reparaturmeldungen, Reifenwechsel organisieren etc…).

09:44 Einsatz ohne Sondersignal und Wechselklanghorn in einem Alterszentrum.
Diesmal haben wir die Rollen gewechselt. Ich fahre den Rettungswagen zum Einsatzort. Meine Teampartnerin übernimmt die Einsatzleitung. Der Patient und die Pflege kommen uns bereits entgegen. Während ich im geheizten Fahrzeug die Vitalfunktionen des Patienten erfasse, erhält meine Kollegin von der Pflege einen Übergabe-Rapport. Der Patient ist aktuell stabil. Er wird aber für weitere Untersuchungen ins Spital verlegt. Von unserer Seite sind keine weiteren Handlungen indiziert. Als wir auf dem Notfall ankommen, sind die Betten auf dem Gang schon belegt. Es ist full-house. Die elektronische Patientenanmeldung hat nicht funktioniert. Wir besprechen uns kurz mit der Pflege, bekommen eine Koje zugewiesen und helfen beim Bett frisch beziehen etc… Nach dem Übergaberapport an das Spitalteam (Pflege und Ärzte) besprechen wir den Einsatz, während wir die Trage und den Monitor reinigen. Kurz nach dem Eintreffen auf der Wache erhalten wir den nächsten Einsatz.

11:00 Einsatz mit Sondersignal und Wechselklanghorn, Ohnmacht.
Diesmal dauert die Anfahrt ca. 15 Minuten. Meine Kollegin betreut weiterhin die Patienten. Wir werden in einer ländlichen Gegend in einem gepflegten Einfamilienhaus von einem Hund in Empfang genommen. Der Hund muss zuerst vom Ehepartner der Patientin weggesperrt werden, da wir die Reaktion der Tiere nicht einschätzen können. Nun ist es sicher. Der Ehemann unserer Patientin führt uns in die Wohnung. Gemeinsam mit dem Praktikanten werden wieder die Vitalparameter erfasst. Meine Kollegin erhebt die Patientenanamnese und führt die Untersuchung durch. Beide brauchen bei Ihren Tätigkeiten noch Unterstützung. Ich mache mir Notizen, damit ich ihnen im Anschluss an den Einsatz eine Rückmeldung geben kann. Gemeinsam mit dem Ehemann packen wir einige Kleidungsstücke sowie die Krankenkassenkarte ein. Die Patientin kann selbstständig zum Rettungswagen gehen. Sie hat bekannte Bauchschmerzen und Schwindel. Wieder braucht es keine Intervention von unserer Seite. Um 11:45 sind wir zurück im Zentrumsspital. Aufgrund der Bauchschmerzen melden wir die Patientin auf der Chirurgie an. Bereits während des Rapports meldet sich der Oberarzt der Chirurgie etwas forsch: Wieso denn eine Ambulanz bestellt worden sei? Wir erklären, dass der Hausarzt der Patientin zurzeit in den Ferien ist und die Patientin sich unwohl fühlte beim Gedanken, selbstständig ins Spital zu kommen. Die Chirurgen verlassen den Rapport und werden den Fall an die Mediziner übergeben. Für uns ist hier der Einsatz beendet. Nach der Fahrzeugreinigung können wir kurz nach 12:00 Uhr zum Mittagessen. Keine Selbstverständlichkeit, wir freuen uns!

Während der Mittagspause (30 Minuten) diskutieren wir verschiedene erlebte Einsätze. Es gibt auch einige politische Diskussionen. Aufgrund der aktuellen Lage dürfen jeweils nur 6 Personen im Aufenthaltsraum sein. So geht es nach dem Essen zügig zurück an den Computer. Doch kaum hingesessen, folgt der nächste Einsatz.

12:29 Einsatz mit Sondersignal und Wechselklanghorn.
Während der kurzen Anfahrt erfahren wir, dass die Stadtpolizei vor Ort ist. Bei Ankunft am Einsatzort werden wir von zwei Nachbaren in die Wohnung im 4. Stock gewiesen. Mit zwei Rucksäcken und dem Monitor (jeweils ca. 5-10kg schwer) geht es zu Fuss die Treppen hoch. Die Wohnungstüre steht offen. Eine Polizistin erzählt uns, dass sie vom Nachbarn alarmiert wurden, da der Wohnungsbewohner sich seit gestern nicht mehr gemeldet habe. Wir nehmen starken Gestank und Fliegen wahr - noch vor Betreten der Wohnung. Das Material belassen wir erstmal draussen und gehen in die Wohnung, um uns ein Bild der Situation zu verschaffen. Die Räumlichkeiten befinden sich in einem desolaten Zustand. Wir müssen viele Dinge verschieben, um zum Patienten zu gelangen. Er liegt nackt zuhinterst auf dem Boden. Ein kurzes Assessment folgt. Der Patient scheint nicht lebensbedrohlich verletzt zu sein. Das Team der Polizei holt unseren Tragestuhl, während wir inzwischen den Patienten untersuchen. Gemeinsam geht es dann in den Rettungswagen. Die Anamnese ist aufwändig. Der Patient kann nicht zu allen für uns relevanten Punkten Aussagen machen. Wir etablieren eine Infusion, da der Patient seit ca. 36 Stunden am Boden lag und stark dehydriert ist. Vor der Abfahrt besprechen wir das weitere Vorgehen mit der Polizei, welche aufgrund des Wohnungszustandes eine Gefährdungsmeldung machen wird. Zurück im Spital (13:42h). Die Notfallstation gleicht weiterhin einem Bienenhaus… Es folgt das gleiche Prozedere: Rapport, Reinigung und Retablierung, Einsatznachbesprechung. Ich helfe der Studierenden beim Protokollieren.

15:17 Einsatz ohne Sondersignal und Wechselklanghorn, Vergiftung.
Wir sind ca. 20 Minuten unterwegs in ein betreutes Wohnen. Am Einsatzort angekommen erklärt uns einer der Betreuer, dass unsere Patientin seit einiger Zeit über Albträume klage, vermehrt Alkohol konsumiere und deshalb heute bereits mehrfach gestürzt ist. Da das Wohnheim keine Überwachung gewährleisten kann, soll die Patientin ins Spital gebracht werden. Wir helfen der torkelnden Patientin vom zweiten Stock in den Rettungswagen, erfassen die Anamnese und die Vitalparameter. Von ihrem Betreuer erhalten wir etwas Schokolade! Juhui. Zurück im Spital treffen wir einmal mehr auf dasselbe Team von Ärztinnen. Wir brächten heute die "besten" Fälle, sagen sie im Witz zu uns. Die Notfallstation scheint bald aus allen Nähten zu platzen. Zwischen Rettungsdienst und Pflegepersonal bleibt es trotz hoher Arbeitsbelastung freundlich und hilfsbereit. So schön, ich bin dankbar. Zurück auf der Wache setzten wir uns gegen 17:00 Uhr an den Tisch, trinken einen Kaffee und geniessen unsere Schokolade. Durchatmen, schwatzen. Die anderen Teams sind alle unterwegs. Gibt es auch heute wieder Überzeit?

Da war doch noch was? Stimmt, wir fahren in die Garage, um eine unserer Sauerstoffflaschen zu wechseln. Es ist bald 18:00 Uhr. Noch eine Stunde bis Feierabend. Etwas auf Nadeln setzte ich mich an den Computer zum Verfassen des Leistungsnachweises. Um 18:45 geht es in die Fahrzeughalle, erneut werden das ganze Fahrzeug sowie die benötigten Geräte (Pager, Funk und Telefon) gereinigt. Einige der Nachtteams treffen ein. Irgendwo ertönt erneut der Pager. Heute haben wir Glück und können nach 12.5 Stunden Dienst pünktlich nach Hause.