Wir sind das Krokodil! Selbstausbeutung als Führungsprinzip

Der Beitrag „Selbstausbeutung als System“ hat viele Reaktionen ausgelöst und Fragen aufgeworfen.* VPOD-Sekretär Roland Brunner doppelt nach.

Über die Verinnerlichung der Pflegerolle und die Selbstausbeutung der Pflegefachkräfte haben wir schon geschrieben. Wir haben dabei festgehalten, dass diese Selbstausbeutung nicht eigentlich ein «Selbst» ist, sondern dass es ein System ist. Hier wollen wir tiefergraben. Zitieren wir nochmals aus dem letzten Artikel:

Umgesetzt und auf das Personal abgewälzt wird das Problem durch indirekte Steuerungs­systeme wie «Führen durch Zielvereinbarungen» (MbO), die Einführung von «Profit-Centern», die Orientierung an «Benchmarks» usw. Diese Techniken übertragen unter­nehmerische Verantwortung auf die Beschäftigten und erhöhen damit den Erfolgsdruck und den Stress. Die Angestellten kommen in eine Doppelrolle: Einerseits sind sie abhängig beschäftigt mit meist wenig Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, andererseits werden sie für die wirtschaftlichen Erfolge mit verantwortlich gemacht.

Wie genau funktioniert das? Klaus Peters das alte System der Kommandowirtschaft, das er als „Modell Pistole“ illustriert: Der Arbeitgebende befiehlt, die Angestellten gehorchen. Wer nicht gehorcht, wird erschossen (abgemahnt, entlassen). Der Vorgesetzte hat Weisungsrecht und Sanktionsmöglichkeiten. Aber dieses System der Kommandogewalt per Pistole hat Nachteile: Erstens ist die Schussweite gering. Die Pistole ist nur im Betrieb und während der Arbeitszeit eine Bedrohung. Sobald die Arbeit vorbei ist und ich den Betrieb verlasse, kümmert mich der Arbeitgeber und die Pistole nicht mehr. Jetzt habe ich ja frei. Und zweitens: Wenn der Arbeitgeber abdrückt und schiesst, hat auch er einen Nachteil, denn er muss nun einen neuen Angestellten suchen, den er bedrohen kann. Er muss also immer abwägen, ob er wirklich schiessen soll oder nicht.

Das war die schlechte, alte Zeit der Kommandowirtschaft. Die herrscht auch heute noch hier und dort, aber „modernes“ Management versucht, ohne Pistole auszukommen. Die ständige Intensivierung der Arbeit und damit verbunden die Unmöglichkeit, überall jemanden mit einer Pistole stehen zu haben, führte zur Suche nach effizienteren Führungsmethoden. Statt dem Zwang mit der Pistole sollen „Selbstverantwortung“ und „Teamgeist“ die Kontrolle übernehmen. Man will auf Kommandos verzichten und stattdessen auf Vertrauen setzen.

Teamgeist als Managementmethode

Wer kennt sie nicht, die berühmt-berüchtigten Teambildungs-Anlässe. Seminare, Workshops, Ausflüge… den Arbeitgebern scheint es viel Geld wert zu sein, dass die Angestellten als Team funktionieren. Wieso eigentlich? Klaus Peters beschreibt das neue Führungssystem als „Modell Krokodil“. Um nun ohne Pistole dafür zu sorgen, dass ein Angestellter von A nach B geht, setzt er ein Krokodil ein. Klaus Peters schreibt:

Er platziert es am Punkt A – im Rücken des Mitarbeiters – und richtet die übrigen Rahmen­bedingungen so ein, dass sich der Mitarbeiter nur in Sicherheit bringen kann, wenn er – möglichst flott – zu Punkt B entweicht. Ein besonderes Kommando ist in diesem Fall offenkundig nicht mehr nötig. Das Krokodil erweist sich als eine echte Vertrauensgrundlage: der Vorgesetzte kann nämlich darauf vertrauen, dass der Mitarbeiter – auch von sich aus! – tut, was der Vorgesetzte will.

Im Modell Krokodil werden die Unternehmens- oder Abteilungsziele zu den Zielen der Angestellten gemacht, die dafür auch Verantwortung übernehmen sollen. Und die Angestellten verinnerlichen diese Ziele. Sie wollen sie erreichen, wollen ihren Beitrag leisten zum Erfolg des Unternehmens, der Abteilung. Die eigene Arbeit ist nicht mehr Mittel zum Zweck des Lebensunterhalts, sondern ein Kampf für das Überleben des Betriebes. Es braucht keinen Chef mit einer Pistole mehr. Das Krokodil und die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist mehr als Motivation genug, schnell und effizient zu sein.

Und nicht nur ich renne vor dem Krokodil davon, sondern das ganze Team. Je mehr wir zum Team gebildet werden, um so kollektiver rennen wir dem Ziel hinterher und versuchen, es zu erreichen – wie ein Horizont, der immer wieder entweicht, respektive immer neu definiert wird und deshalb unerreichbar bleibt. Sonst wäre ich ja plötzlich zufrieden und würde innehalten. Plötzlich wird es also zu meiner Aufgabe und zur Aufgabe des ganzen Teams dafür zu sorgen, dass die Unternehmensziele erreicht werden. Laut Peters:

Es war ja auch früher nicht so, dass alle Arbeit geschafft war, wenn die Arbeitszeit vorbei war. Aber die Arbeit, die liegenblieb, blieb beim Arbeitgeber liegen. Er musste sich etwas einfallen lassen: Überstunden beantragen, neue Leute einstellen – jedenfalls war es sein Problem. Jetzt finden wir uns offenbar unter Bedingungen wieder, in denen die liegengebliebene Arbeit unser Problem ist, so dass, wenn einer sich an die vertragliche Arbeitszeit hält, die anderen sich gezwungen sehen, ‚seine Arbeit mitzumachen’.

Und weiter:

Die neue Unternehmensorganisation erreicht das organisierte Handeln nicht durch die Unterordnung des Willens des Einzelnen, sondern dadurch, dass sie den eigenen Willen des Mitarbeiters funktionalisiert für den Unternehmenszweck. Und diese Vereinnahmung des eigenen Willen des Individuums für den Unternehmenszweck ist um ein Vielfaches produktiver als die Unterordnung des Willens des Einzelnen.

Wir kommen als Team also praktisch in Sippenhaftung für die Unternehmensziele – und das ganz ohne Pistole, denn vor dem Krokodil flüchten wir ja freiwillig und so schnell es nur geht. Ja das Team wird selber zur verinnerlichen Kontrollinstanz: Wir wollen als Team die Ziele erreichen. Also kann ich mich nicht drücken und krank machen, wenn es mir nicht gut geht, denn dann müssen die anderen umso schneller rennen. Ich bin solidarisch und will das Team, also meine ArbeitskollegInnen, nicht belasten. Dann arbeite ich lieber rund um die Uhr, auch wenn ich krank bin. Wenn da nur nicht all die Hindernisse wären, die es zu überwinden gilt.

Gewerkschaften und Gesetze als Hindernis

Sind die Unternehmensziele einmal verinnerlicht und im eigenen Wertesystem wichtiger als das eigene Wohlbefinden, dann wird alles nur noch als Hindernis verstanden, was im Wege steht. Arbeitsgesetz? Höchstarbeitszeiten? Pausenregelung? Gewerkschaften? Weg damit, denn ich will ohne all diese Hindernisse dem Krokodil entkommen. Plötzlich erscheint also als Hindernis, was als Leitplanke gebaut wurde. Die Schutzbestimmungen gegen die Übergriffe des Arbeitgebers scheinen sich in Einschränkungen für meine Zielerreichung zu verwandeln.

Wichtig ist, an diesem Punkt innezuhalten und zu überlegen. Woher kommen diese Unternehmensziele eigentlich? Welchen Einfluss habe ich und hat das Team, diese festzusetzen? Und welche Entscheidungskompetenz habe ich – ausser meiner Selbstausbeutung –, um die Ziele zu erreichen? Noch einmal Peter:

Bei der neuen Autonomie in der Arbeit geht es nicht um eine Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, sondern es geht darum, dass man selber konfrontiert wird mit den unternehmerischen Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit (sprich: Krokodil).

Konkret:

Heute geht es (…) darum, dass die Mitarbeiter gefordert sind, selbstständig zu reagieren auf die Rahmenbedingungen, die sie vorfinden und die vom Management zum Teil so arrangiert und teilweise auch konstruiert werden, dass, wenn das Management seine Kunst beherrscht, die Mitarbeiter auf diese Rahmenbedingungen selber – von sich aus – mit Höchstleistung reagieren.

Um aus dem Konstrukt der Selbstverantwortung zu entkommen, müssen wir also die Rahmen­bedingungen infrage stellen, in denen wir uns bewegen. Deshalb ersetze ich das Modell Krokodil mit dem Modell Hamsterrad: Wir können im Hamsterkäfig rennen, so schnell wir wollen, wir kommen nie ans Ziel. Nur wenn wir die Frage stellen, ob der Käfig überhaupt der Ort ist, wo wir sein wollen und mit welchem Recht unsere Arbeitgeber die Rahmenbedingungen (die Käfiggrösse) festlegen, um uns dann losrennen zu lassen, nur dann kann das Team eine befreiende Grösse statt einer Kontrollinstanz sein.

Nur wenn ich mit meinen Arbeitskolleg*innen über Sinn und Unsinn der Arbeit und der konkreten Arbeitsorganisation, über die Gestaltung der Rahmenbedingungen und die gemeinsame Umsetzung unserer Ziele rede, wird Selbstverantwortung auch zu einem Stück Selbstbefreiung – Befreiung aus der funktionalisierten Mitverantwortung, die ich auf der Flucht vor dem Krokodil übernommen habe. Und hier sind die Gewerkschaften eine wichtige Hilfe, denn sie sind unabhängig von den Interessen des Betriebes, aber den Angestellten verpflichtet und können so Brücken schlagen und wirkliche Teambildung unterstützen.

Um mit Peters zu schliessen:

Erstens: Jeder muss selber herausfinden, was für ihn selber gut ist … aber:

Zweitens: Keiner kann das alleine!

Roland Brunner

*Der Text „Selbstausbeutung als System“ wurde auf der Webseite des VPOD Zürich veröffentlicht: https://zuerich.vpod.ch/news/2019/2019-08-06_rb/

Der hier vorliegende neue Text baut auf einem Referat von Klaus Peters auf, das vor mehr als 10 Jahren unter dem Titel „Wie Krokodile vertrauen schaffen“ erschienen ist. Das Krokodil wurde „erfunden“ vom deutschen Cogito-Institut. Das Referat kann dort abgerufen werden unter https://cogito-institut.de/?page_id=45