06:45h Dienstbeginn. Mit Freuden habe ich in den letzten Teamnews gelesen, dass wir wieder Gleitzeiten im Frühdienst haben. Ob der Feierabend dann wirklich entsprechend um 15:30h möglich sein wird, wage ich am Morgen früh noch zu bezweifeln.
Zuerst lese ich mich ein bei meinen Patient:innen und kontrolliere dabei die Medikamentenschieber für den Tag. Die Nachtwache schaut kurz vorbei und rapportiert die wichtigsten Vorkommnisse der Nacht. Zusammen mit einer FaGe betreue ich ein 4er-Zimmer, wobei aktuell nur drei Betten belegt sind. Das klingt ja schon mal nicht schlecht. Aber weniger zu betreuende Patient:innen heisst nicht zwangsläufig weniger Arbeit, eher ist das Gegenteil die Realität. Heute scheine ich aber Glück zu haben.
Die FaGe und ich teilen uns die Patient:innen auf und nach dem Einlesen besprechen wir, welche Tätigkeiten heute bei den Patient:innen durchgeführt werden müssen, ob es Tätigkeiten gibt, die ich als diplomierte Pflegefachperson übernehmen muss, wo die FaGe keine Kompetenz dazu hat und was wir auf Visite mit den Ärzt:innen klären müssen.
Dann geht es schon los auf die erste Morgenrunde mit Blutentnahmen, Überwachung der Vitalparameter, Erfragen des Befindens und Planung des Tages zusammen mit den Patienten (Wer braucht Unterstützung bei der Körperpflege? Welche Therapien stehen heute wann an? Etc.).
Einer der Patienten wird bestrahlt und bekommt zusätzlich ein orales Zytostatikum, das exakt eine Stunde vor der Bestrahlung eingenommen werden muss. Ausserdem darf er vor und nach der Einnahme nichts essen. Jegliche Art von Chemotherapie wird durch zwei Diplomierte kontrolliert, denn ein Fehler darf hier natürlich nicht passieren. Also suche ich mir eine Kollegin, die dafür Zeit hat.
Und schon ist es 08:45h, Zeit für den Morgenrapport. Alle Patient:innen werden kurz besprochen, wie es ihnen geht, was aktuell ansteht und was das Procedere ist. Ausserdem kann man direkt Hilfe anfordern oder Hilfe anbieten. Es scheint, als ob es auf der ganzen Abteilung heute ruhig ist. Niemand braucht Hilfe.
Noch während des Rapports werde ich weggerufen zur ersten Visite. Danach machen wir eine kurze Frühstückspause, bevor der nächste Arzt für die Visite kommt. Da wir eine interdisziplinäre Abteilung sind (Onkologie, Hämatologie, Radio-Onkologie und Innere Medizin), ist es gut möglich, dass jeder Patient einen anderen Arzt hat und man somit 3-5 Visiten absolvieren muss. Nur schon das kann den Vormittag füllen, ohne dass man wirklich bei den Patient:innen war und sie unterstützen konnte.
Einer der Patienten soll noch heute entlassen werden, da er die Chemo von letzter Woche gut vertragen hat. Doch kommt er zu Hause zurecht? Er ist gangunsicher und nur an den Gehstöcken oder am Rollator mobil. Die Einschätzung für mich ist schwierig, da ich den Patienten erst seit heute Morgen kenne. Ich halte Rücksprache mit der Physio, die mit dem Patienten intensiv an der Mobilität arbeitet, und wir einigen uns darauf, dass Spitex sicher sinnvoll wäre.
Das Austrittsmanagement ist ein zentraler Punkt für das diplomierte Pflegepersonal und so setze ich mich zum Patienten hin und frage.
- Können Sie sich vorstellen nach Hause auszutreten heute/morgen?
- Wie sind Sie zu Hause versorgt? Haben Sie Unterstützung?
- Wie machen Sie das mit dem Einkaufen? Kochen? Reinigung der Wohnung? Waschen? Duschen?
- Können Sie die drei Stockwerke ohne Lift bis zur Wohnung bewältigen?
- Wer besorgt die Medikamente und richtet sie, damit sie korrekt eingenommen werden?
- Wäre nicht doch Spitex sinnvoll zumindest für den Anfang?
- Und wie kommen Sie überhaupt vom Spital nach Hause?
All diese Fragen müssen geklärt werden, denn es gilt einen Wiedereintritt ins Spital wegen unzureichender Versorgung zu Hause zu vermeiden.
Der Patient ist schliesslich mit dem Einbezug der Spitex einverstanden und kann sich den Alltag zu Hause vorstellen. Jedoch kann er erst austreten, wenn sein Portemonnaie von der Rehaklinik gebracht wird, wo es im Safe liegen blieb. Denn wie soll er sonst das Taxi für die Heimfahrt bezahlen? Also nimmt die FaGe mit der Rehaklinik telefonisch Kontakt auf, während ich Online die Spitex-Anmeldung ausfülle.
Und schon ist es 11:15h. Höchste Zeit für mich, Muttermilch abzupumpen für den Säugling zu Hause. Denn auch das ist Realität. Der Pflegeberuf ist ein Frauenberuf und stellt junge Mütter nochmals vor ganz neue Herausforderungen. Zwar sind die gesetzlichen Vorgaben klar und der Betrieb muss die Zeit fürs Abpumpen oder Stillen zur Verfügung stellen. Aber die Arbeit muss trotzdem erledigt werden und nicht alles kann man den Kolleg:innen abgeben, wenn sie denn überhaupt die Kapazität dazu haben.
Nach dem Mittagessen gibt es nochmals einen kurzen Rapport. Trotz einiger Eintritte am Vormittag benötigt niemand der Kolleg:innen aktuell Hilfe. Der Sozialdienst kommt vorbei und wir tauschen uns aus, ob der eine Patient mit einem Hirntumor eine IV-Anmeldung benötigt. Dann kann ich mich endlich mal nach meinem mehrmonatigen Mutterschaftsurlaub mit den Neuerungen in den Richtlinien auseinandersetzen und mich sogar mit den Kolleg:innen über die aktuellen Patien:innen auf der Abteilung austauschen. Denn was für Patient:innen werden überhaupt auf einer onkologischen Abteilung betreut?
Zum Beispiel ist da der Mann, der die letzten Tage Chemotherapie erhielt. Es war eine Gratwanderung, ob er die Therapie überhaupt verträgt, oder ob es ihm dadurch schon viel schneller viel schlechter gehen würde. Zum Glück hat er die Therapie gut vertragen und ein Austritt kann in ein paar Tagen erfolgen.
In einem anderen Zimmer liegt ein Schmerzpatient, der aber keine Medikamente nehmen möchte.
Da liegt ein junger Mensch nach autologer Stammzelltransplantation mit aussergewöhnlich starken und langanhaltenden Nebenwirkungen, welcher nach nur einer Nacht zu Hause wieder eintreten musste mit anhaltendem Erbrechen und Durchfall. Die Ärzt:innen kennen die Ursache dafür noch nicht.
Da ist ein regulärer Eintritt von heute, wo Chemotherapie laufen soll, jedoch das letzte Visum des Oberarztes für die Verabreichung fehlt, weil auch die Ärzt:innen überlastet sind. Und so ist die Kollegin blockiert bis Dienstschluss und die Therapie muss im Spätdienst laufen, wo weniger Personal und Kapazität vorhanden ist.
Da ist der Übertritt von der neurologischen Station, der vor wenigen Wochen die Diagnose Hirntumor erhalten hat und nun halbseitig gelähmt und wesensverändert ist. Doch wie kommuniziert man überhaupt mit einem Patienten, der kaum mehr hören und sehen kann? Die Begleitung und Unterstützung der Angehörigen ist in so einem Fall sehr zentral.
Und da liegt auch noch der delirante Patient, der die Woche zuvor so unruhig war, dass er auf die Intensivstation verlegt werden musste. Auf der Abteilung war es nicht mehr handhabbar trotz 24h-Sitzwache. Nun ist er wieder zurück auf der Abteilung und heute plötzlich total apathisch. Da schrillen bei der Pflege natürlich gleich wieder die Alarmglocken. Haben wir etwas übersehen? Verschlechtert sich der Zustand des Patienten? Was müssen wir unternehmen? Braucht es weitere Abklärungen?
Ich helfe schliesslich noch einer Kollegin, gebe einem Patienten Essen ein und mache ihn fertig für den Transport ins MRI. Und um 15:30h kann ich tatsächlich Feierabend machen. Endlich muss ich mal nicht auf den Zug hetzen, damit ich rechtzeitig die Kinder von der Betreuung abholen kann.
Heute war ein guter Tag. Ein ruhiger Tag. Ein Tag, bei dem ich alle Arbeiten ohne Hetzen erledigen konnte. Ein Tag, an dem ich mir Zeit für die Patient:innen nehmen konnte. Ein Tag, der viel zu selten vorkommt. Ein Tag, von dem ich wieder Kraft schöpfen kann für die nächsten stressigen und überlasteten Arbeitstage, wo ein pünktlicher Feierabend Wunschdenken bleibt.
Jael
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