Liebe Kolleginnen und Kollegen
Liebe Frauen
Kennt ihr das? Selbst 2019 und mit vielen guten weiblichen Vorbildern passiert es mir immer noch. Ich werde für eine 1. Mai Rede angefragt und bin unglaublich nervös, unsicher und denke: ohje, kann das nicht jemand anders besser? Ich habe herausgefunden, dass ich damit nicht alleine bin. Das ganze nennt sich «Imposture Syndrome» und wurde 1978 entdeckt. Forscher verorteten es vor allem in bei erfolgreichen Frauen in Führungspositionen. Heute ist sich die Wissenschaft nicht mehr einig, ob wirklich Frauen mehrheitlich betroffen sind oder ob wir alle manchmal ein bisschen am Hochstapler-Syndrom leiden.
Ich wage zu behaupten, dass das Imposture-Syndrom bei uns Frauen schlimmer ist. Es ist schlimmer, weil Männer in gleichen Positionen auf Vorbilder zurückgreifen können. Heute ist der Kreis der Frauen in Führungsfunktionen, in der Politik oder eben heute an einem 1.Mai-Pult zwar grösser – wir sind aber noch nicht da angekommen, ..
Solange bei einer Veranstaltung wie als Pluspunkt hervorgehoben werden muss, dass eine Frau eine Rede hält oder eine Frau an einem Podium teilnehmen wird, ...
Dass hier und heute am 1. Mai in Wädenswil drei Frauen sprechen, ist eine löbliche Ausnahme. Aber das macht mein Imposture-Syndrom noch nicht kleiner und die Gleichstellung auch noch nicht Wirklichkeit.
Aber anyhow. Ich sollte ja langsam mal zum 1. Mai kommen. Ich würde Euch als Präsidentin der VPOD Sektion Zürich Kanton zum internationalen Tag der Arbeit gerne ein Paradebeispiel für gute Gewerkschaftsarbeit erzählen:
Von langer Hand vorbereitet und von Spitalangestellten am Zürcher Universitätsspital USZ initiiert, lancierte die VPOD Sektion Zürich Kanton vergangenen Herbst die Kampagne «Umkleiden ist Arbeitszeit!». Im September erschien im Sonntagsblick ein grosser Artikel «Personalverband: Umkleidezeit ist Arbeitszeit!». Das war der Auftakt zu einer Kampagne, dessen Thema in den vergangenen Monaten immer wieder in den Medien aufgenommen worden ist. Schnell war klar: Die Anerkennung der Umkleidezeit wurde in der breiten Öffentlichkeit, aber auch in der Politik und bei RechtsexpertInnen unbestritten und die Verantwortlichen kamen in grösste Erklärungsnöte.
Am 8. November hat der zuständige VPOD-Sekretär eine Umfrage online geschaltet, an der sich rund 1000 Angestellte der Spitäler im Kanton Zürich beteiligten. Die Auswertung zeigte: Das tägliche Umkleiden nimmt bei 67% der Teilnehmenden zwischen 10-20 Minuten Zeit in Anspruch – und das in 97% der Fälle unbezahlt! Gesamthaft weist die Umfrage nach, dass den Spitalangestellten (bei einem Vollzeitpensum) wöchentlich 2,5 Stunden, monatlich 10 Stunden, jährlich 120 Stunden = drei Arbeitswochen gestohlen werden, für die ihnen eine Lohnzahlung zusteht.
Eine Anfrage im Kantonsrat zum Thema und zur Haltung des Regierungsrat befeuerte die Debatte. Die stark intensivierte Präsenz des VPOD in den Spitälern sorgte nicht nur für viele Neumitglieder, sondern vor allem für Vollmachten, um eine Lohnklage bei den betroffenen Spitälern einzureichen. Die KollegInnen am USZ und der VPOD hatten einen Nerv getroffen, auf den sehr viele Spitalangestellte sensibel reagierten.
Acht Monate nach der Lancierung der Kampagne sind die Meinungen gemacht: der VPOD hat recht und einzelne Spitäler rechnen seit dem 1.1.2019 die Umkleidezeit als Arbeitszeit an. Dem schliesst sich auch der Regierungsrat mit seiner Antwort auf unsere Anfrage im Kantonsrat an. Stossend ist aber, dass er herumschwurbelt, wenn es um die Überprüfung der Spitäler geht, das Arbeitsgesetz auch wirklich einzuhalten. Er spielt den Ball an das bisher untätige Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) und die Arbeitsinspektorate zurück.
Auch wenn einzelne Spitäler nun vorwärtsmachen und die Umkleidezeit als Arbeitszeit anerkennen, entschädigt das die Angestellten noch nicht für die in den letzten fünf Jahren geleistete, aber nicht bezahlte Arbeitszeit. Bei einer Vollzeitanstellung macht das pro Kopf rund 2,5 Monatslöhne oder Ferienwochen aus. Ob diese Lohnnachforderungen vor Gericht durchgesetzt werden müssen, hängt stark davon ab, wie fair die Angebote der Spitäler an die Angestellten ausfallen, die Umkleidezeit anzurechnen. Und es gibt auch Spitäler, die sich schlicht weigern, die Umkleidezeit anzurechnen. Auch dort werden wir wohl mit dem Spital vor Gericht landen.
Für uns ist klar: Als Gewerkschaft sind wir nicht nur Ansprechpartnerin bei Einzelfällen, in welchen Mitglieder unsere Unterstützung am Verhandlungstisch brauchen. Wir sind auch nicht nur für die vermeintlich grossen Themen wie Spitalprivatisierungen oder die zusätzliche Ferienwoche für das kantonale Personal gut. Wir schauen den Menschen als Gesamtes in seiner Arbeitswelt an und wehren uns auf allen Ebenen für das Recht der Mitarbeitenden: Wir kämpfen genauso für 5 zusätzliche Tage Ferien wie für 15 Minuten Umkleidezeit. Denn es geht nicht nur um Zeit und Geld, sondern auch um Würde und Wertschätzung. Die Wahl der Themen durch die Basis, die Ressourcen der Gewerkschaft für die Präsenz im Betrieb, das Know-how für das rechtliche Vorgehen und die Medienarbeit… Dafür brauchen wir Zeit, Geld und noch viele neue Mitglieder, um uns mit starker Stimme für das Personal einsetzen zu können. Das macht uns zur verlässlichen Partnerin für alle Angestellten. Und mich zur stolzen Präsidentin der VPOD Sektion Zürich Kanton. Ich hoffe, ihr alle seid schon Mitglied in einer Gewerkschaft. Und sonst fordere ich euch auf, das schnellstmöglich zu machen. Wer von seiner Arbeit lebt, braucht eine Gewerkschaft. Genauso wie MieterInnen den Mieterverband oder VelofahrerInnen den VCS. Der Tag der Arbeit ist der richtige Zeitpunkt, um mit einem Beitritt zur Gewerkschaft den Kampf für faire Löhne und anständige Anstellungsbedingungen zu unterstützen und sich gemeinsam dafür zu engagieren.
Und ich möchte gerne noch den Link zum diesjährigen 1. Mai-Motto machen: Frauenstreik! Das Thema Umkleidezeit betrifft nämlich vor allem die Frauen!
Frauen sind im Tieflohnbereich übervertreten und bei den hohen Löhnen massiv untervertreten: 63 Prozent der Stellen mit Löhnen unter 4000 Franken sind von Frauen besetzt, bei den Stellen mit Löhnen über 16’000 Franken sind es bloss noch 18 Prozent. Und wenn der Frauenanteil in einem Beruf steigt, sinken tendenziell die Löhne.
Typische Frauenberufe sind zwar häufig (überlebens)notwendig, gelten aber oft als weniger wert-voll und sind entsprechend schlechter bezahlt: Wer bestimmt denn, dass ein Banker wichtigere (wertvollere ?) Arbeit leistet als eine Fachfrau Gesundheit, ein Gymnasiallehrer anspruchsvollere Arbeit als eine Kindergärtnerin?
Frauen wollen anständige Löhne für ihre Arbeit. Deshalb muss die Arbeit mit und für Menschen aufgewertet werden: Es braucht Gesamtarbeitsverträge in Branchen mit hohem Frauenanteil und einen flächendeckenden Mindestlohn von 4000 Franken. Dafür streiken wir am 14. Juni!
Darum: Nicht nur Heraus zum 1. Mai sondern auch hinein in die Gewerkschaften und heraus zum 14. Juni – wenn Frau will, steht alles still.