Selbstausbeutung als System

Von: Roland Brunner

Wer im Gesundheitswesen arbeitet, tut dies nicht wegen des Lohnes. Im Gegenteil. Und davon profitieren die Spitäler und Heime.

Unzählige Umfragen belegen die hohe Motivation von Angestellten im Gesundheitswesen. Mann und vor allem Frau will nicht in einer Bank oder einer Versicherung arbeiten, sondern an einem Ort, wo der Mensch und seine Gesundheit im Mittelpunkt steht. Intrinsische Motivation nennt sich das. Nicht das Geld zählt, sondern der Sinn der Arbeit. Und der sollte ja im Gesundheitswesen im Vordergrund stehen.

Fiasko Fabriklogik

Mit der Ökonomisierung des Gesundheitswesens hat sich dieser Grundsatz in sein Gegenteil verkehrt. Überall haben Ökonomen, Manager, Betriebswirtschaftler und Konsorten die Führung übernommen. Und sie führen mit Zahlen: schwarz statt rot. Möglichst gute Rendite, Kosten sparen, Effizienz… Der US-amerikanische Wirtschaftsingenieur Robert B. Fetter erklärte Ende der 80erjahre das Spital zur Fabrik, in der medizinische Leistungen wie Autobestandteile standardisiert und normiert werden müssten. Die Logik der Autoproduktion, wo praktisch ohne Menschenhand tausende von Wagen vom Fliessband rollen, wird dem Gesundheitswesen auf- und übergestülpt.

Darunter leidet das Gesundheitspersonal gleich mehrfach. Und dass dieses System die Kosten nicht senkt, sondern sie sogar weiter anheizt, haben kürzlich SonntagsBlick und Tages-Anzeiger in ihrer Berichterstattung über die Finanzierungsprobleme der Kinderspitäler wieder ganz deutlich beschrieben. Das „Virus Managementdenken“, das aus den USA eingeschleppt das Spital mit Fallpauschalen zur Fabrik machen sollte, macht laut SoBli-Chefredaktor Gieri Cavelti „das System aus finanzieller Sicht zum Fiasko“.

Umgesetzt und auf das Personal abgewälzt wird das Problem durch indirekte Steuerungssysteme wie «Führen durch Zielvereinbarungen» (MbO), die Einführung von «Profit-Centern», die Orientierung an «Benchmarks» usw. Diese Techniken übertragen unternehmerische Verantwortung auf die Beschäftigten und erhöhen damit den Erfolgsdruck und den Stress. Die Angestellten kommen in eine Doppelrolle: Einerseits sind sie abhängig beschäftigt mit meist wenig Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, andererseits werden sie für die wirtschaftlichen Erfolge mit verantwortlich gemacht.

Sinnentleertes Gesundheitswesen

Sinnentleerung und Entfremdung nehmen im Gesundheitswesen überhand. Wer gelernt hat, die PatientInnen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen, wird vom täglichen Betriebsablauf frustriert. Stress, immer schneller immer mehr, am PC dokumentieren statt am Bett begleiten und pflegen… Die Sinnkrise ist bei vielen Pflegeangestellten zum Alltag geworden.

Aber damit nicht genug. Um dem eigenen Anspruch auf gute und sinnvolle Arbeit gerecht zu werden und damit die PatientInnen ja nichts spüren vom Spardruck und dem Stress, versuchen Pflegeangestellte alles aufzufangen. Wie ein Puffer absorbieren sie den Druck von oben, damit er ja nicht bis ans Bett und zu den PatientInnen kommt. Eine Viertelstunde früher kommen, um sich gut einzulesen, am Schluss noch eine Viertelstunde länger bleiben, um alles zu dokumentieren, auf die Pause verzichten, wenn es zu knapp ist… An vielen Orten weiterhin Umkleiden vor und nach der Arbeitszeit… Jede Pflegefachkraft opfert so jedes Jahr zwei, drei Wochen undokumentierte und unbezahlte Arbeitszeit respektive Erholungszeit. Und sie bezahlt dafür einen hohen Preis.

medinside, das Nachrichtenportal für die Gesundheitsbranche, titelt: „Pflegepersonal setzt sich selber zu viel unter Druck“, und schreibt: „Zeitdruck und Personalmangel verhindern oft, dass Pflegepersonen das umsetzen können, was sie eigentlich zu leisten bereit sind. Das frustriert. Und es macht längerfristig krank. Körperlich und psychisch.“ Yogakurse und Seminarangebote zum Zeit- und Stressmanagement oder für einem gesundheitsförderlichen Führungsstil reichen da nicht aus. Man lernt vielleicht, besser mit dem Stress umzugehen. Aber weniger Stress und Belastung – und damit Gesundheitsgefährdung - ist es deswegen nicht.

Raus aus der Selbstausbeutung

Wir wissen längst, wie viele Pflegefachkräfte ihren Beruf wieder verlassen, kaum haben sie die Ausbildung abgeschlossen. Und wie viele die Stellenprozente senken, um den Stress überhaupt auszuhalten – auch wenn sie den Preis dafür mit tieferem Lohn und später tieferer Rente selber bezahlen. Um Sinn und Würde der Arbeit zu retten, flüchten sich viele Pflegefachleute in die Selbstausbeutung.

Dass sich so der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen nicht beseitigen lässt, ist offensichtlich. Nur gute Anstellungsbedingungen und genügend Personal könnten hier helfen. Stattdessen machen die Spitäler und Heime das Gegenteil: Sie wälzen den Kostendruck immer weiter auf das Personal ab und machen die Selbstausbeutung des Personals zum Führungsprinzip und zur eigenen finanziellen Existenzgrundlage. Zu dünne Personaldecke, unmögliche Arbeitszeiten, kein Geld für Umkleidezeit und andere undokumentierte Arbeitszeiten. Heime und Spitäler weisen schwarze Zahlen aus, indem sie auf Kosten des Personals sparen. Dafür leistet man sich dann Neubauten und Marketing. Kurzfristig geht die Rechnung vielleicht auf, aber schon mittelfristig untergräbt der Betrieb damit seine eigene Existenzgrundlage, denn ohne gutes und motiviertes Personal sind ein Heim oder ein Spital nur Gebäude.

Aber auch das Personal selber muss aus seiner Selbstausbeutung ausbrechen und endlich dazu stehen, was es ist: Hoch qualifiziertes und motiviertes Personal, das auch entsprechend behandelt werden muss. Dies einzufordern muss endlich zur Selbstverständlichkeit werden – auch im Gesundheitswesen und vor allem für die Angestellten selbst.

Roland Brunner

weiterlesen (Teil 2): Wir sind das Krokodil! Selbstausbeutung als Führungsprinzip