Zu radikal? Oder nur vernünftig.

Von: Roland Brunner, VPOD-Sekretär Sektion ZH Kanton

36 Stundenwoche? 110% Lohn, bis das umgesetzt werden kann? Zu viel und zu radikal? Gefährdet der VPOD mit diesen Forderungen die Pflegeinitiative?

Die Personal- und Protestversammlung des VPOD am USZ hat Wellen geworfen. DIe Medien berichteten über die Kundgebung, aber es gab auch kritische Stimmen. So zitiert 20 Minuten beispielsweise den SVPler Alber (!) Rösti, Mitglied der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK), dass der (oh Wunder) überhaupt kein Verständnis für die Forderungen habe. Dabei wurden die Forderungen der VPOD-Kolleg*innen am USZ zum Teil (absichtlich?) falsch verstanden. Am umstrittensten war wohl die Forderung, die wöchentliche Sollarbeitszeit auf 36 Stunden zu reduzieren - und den Lohn auf 110% anzuheben, wobei diese Lohnforderung sich eigentlich klar vermerkt auf die Zeit beschränkt, bis genügend Personal vorhanden ist, die Senkung der Arbeitszeit umzusetzen. Es geht und ging also nie um 110% Lohn für 36 Stunden, sondern um 110% Lohn für die 120 und mehr Prozent, die heute geleistet werden müssen.

Entstanden sind die Forderungen im USZ selber. Sie kommen von Angestellten, die ihre eigene Situation reflektieren und überlegen, was es denn braucht. Vor allem die von den Pandemiewellen und dem Personalnotstand am stärksten betroffene Intensivpflege war an der Erarbeitung der Forderungen beteiligt. Und sie wissen, wieso sie solche Forderungen stellen. Viele Kolleg*innen sind ausgebrannt, erschöpft, kündigen oder reduzieren ihre Stellenprozente - was den Druck auf die anderen immer weiter erhöht. Ab 40 findet sich kaum mehr jemand mit einem Vollzeitpensum von 100 Stellenprozenten. Das hält einfach kein Körper und keine Seele aus. Nicht nur leidet das Sozial- und Familienleben darunter, auch die eigene Gesundheit geht dabei kaputt. Die Forderungen sind also sehr wohl nachvollziehbar. Das sehen auch kritische Stimmen, die selber im Gesundheitswesen arbeiten. Nur bürgerliche Sparpolitiker*innen, denen sowieso jede Forderung zu weit geht und die auch die Pflegeinitiataive ablehnen, finden das nicht gerechtfertigt oder sogar unverschämt.

Aber es gab auch kritische Stimmen aus den eigenen Reihen, von Pflegepersonal und Angestellen im Gesundheitswesen, die durch diese Forderungen den Erfolg der Pflegeinitiative gefährdet sehen. Der VPOD liefere den Gegner*innen mit diesen Forderungen eine Steilvorlage gegen die Initiative. Tatsache ist, dass der VPOD sich klar hinter die Pflegeinitiative stellt und dies auch an dieser Kundgebung selber klar war. Alle Redner*innen und der Moderator riefen zu einem starken JA auf, es wurden Flyer und anderes Material für die Initiative verteilt, die Kampagnenleiterin des SBK selber hielt eine Rede, und der VPOD organisiert Verteilaktionen überall. Dem VPOD kann also nicht vorgeworfen werden, er sei gegen die Pflegeinitiative. Dazu engagieren sich unsere Kolleg*innen viel zu stark für ein JA - auch wenn wir sehr wohl kritische Punkte an dieser Vorlage sehen. Vor allem sind wir uns klar, dass ein deutliches, starkes JA zur Pflegeinitiative ein politisch wichtiges Signal setzt, dass die Politik endlich handeln muss. Dass die Pflegeinitiative aber alle Probleme löst - und das noch schnell - erwartet kaum jemand.

Es sind also nicht grundsätzliche Einwände gegen die Forderungen der USZ-Angestellten, sondern taktische Überlegungen: Wer jetzt mehr fordert, gefährde das Wenige, aber Wichtige. Nun sind taktische Überlegungen immer Ansichtssache. Und es ist klar, dass die Gegner*innen der Initiative nicht auf den VPOD gewartet haben, um mit fadenscheinigen Argumenten gegen diese Initiative - und meist sogar gegen den Gegenvorschlag - anzutreten. Aber auch aus taktischer Sicht sind wir nicht einverstanden. Wenn der Bevölkerung nicht klar wird, wie dramatisch die Situation im Gesundheitswesen ist - und wie gefährdet die Gesundheitsversorgung für uns alle damit ist -, dann hilft das der Pflegeinitiative nicht. Den Stimmberechtigten muss klar sein, dass es ein JA braucht - und noch viel mehr. Wer sich der Dramatik der Situation nicht bewusst ist und wer den schon bestehenden und in Zukunft weiter zunehmenden Pflegenotstand nicht erkennt, wird vielleicht Nein oder für den Gegenvorschlag stimmen. Und das können wir uns nicht leisten. Wie der Nachrichtendienst Tsüri schreibt:

Menschen, die kranke oder alte Leute pflegen, tun dies oft aus Überzeugung, mit Stolz, häufig über die eigenen Grenzen hinaus. Aussenstehende verwechseln sie allzu oft mit Held:innen. Und vergessen dabei, dass sie normale Dinge benötigen wie alle anderen auch: Geregelte Arbeitszeiten, einen angemessenen Lohn und die Chance, den Beruf mit dem Privatleben zu vereinbaren.

Die VPOD-Kolleg*innen am USZ stehen voll und ganz hinter der Pflegeinitiative und sehen ihr Engagement und ihre Forderungen als Botschaft an Politik und Gesellschaft, ein klares JA für die Initiative einzulegen - und sich damit nicht zufrieden zu geben, sondern sich nachhaltig für weitergehende Verbesserungen einzusetzen.

Dazu auch der Artikel in der neuen Ausgabe der WochenZeitung WoZ: Pflegeinitiative: Das Ja muss der Anfang sein